Vor einigen Jahren hat der jüngst verstorbene aus Birgelen stammende Pfarrer Hubert Sieberichs (1924 – 2021) ein kleines Heftlein über die Geschichte des Birgelener Pützchens zusammengestellt, dessen Text nachfolgend wiedergegeben wird.
Aus der Geschichte des Birgelener Pützchens
von Pfarrer Hubert Sieberichs
Die Kreuzwegstationen unterhalb des Friedhofs führen uns durch den Wald zu einem kostbaren Kleinod unserer Heimat, dem Birgelener Pützchen. Es kann einen schon nachdenklich stimmen, wenn man bedenkt, daß schon über 1300 Jahre Menschen hier zusammenkommen zum Gebet und zur Verehrung der Gottesmutter. Die vielen Danktafeln in der Kapelle berichten von den Sorgen und Nöten, die die Menschen im Gebet hierher getragen haben, und von der Hilfe, die sie durch die Fürbitte der Gottesmutter hier erfahren haben. Vor ihrem mit Blumen geschmückten Bild brennen immer Kerzen als Zeichen der Verehrung und des Dankes, Lichter des Vertrauens, der Hoffnung und der Zuversicht.
Das Birgelener Pützchen hat seine eigene Geschichte. Wenn auch die historischen Belege über die Anfänge und ersten Zeiten nur spärlich sind, so haben doch Legende und Überlieferung wertvolle Nachrichten über die Jahrhunderte bewahrt. Nach den „Rheinischen Vierteljahresblättern”, Bonn 1931, soll der hl. Lambertus „in Birgelen getauft und einen heidhischen Tempel zur Kirche gemacht haben”. Die Legende berichtet, daß der hl. Lambertus am Pützchen gepredigt und die ersten Taufen gespendet habe. So führt uns die Geschichte des Pützchens in die Zeit zurück, als zum ersten Mal christliche Missionare in unsere Heimat kamen und unseren heidnischen Vorfahren die Frohbotschaft des Christentums verkündet haben.
Die ersten Missionare kamen in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts aus der Benediktinerabtei Stablo in unsere Heimat. Bischof Theodardus von Maastricht hatte sie ausgesandt, um die noch heidnischen Völker der Rurgegend zum Christentum zu bekehren. Unsere Heimat gehörte damals zum Bistum Maastricht. Dem großen Bemühen dieser ersten Missionare war allerdings kein Erfolg beschieden. Bischof Theodardus selbst fiel im Jahre 668 einem Mordanschlag zum Opfer. Sein Nachfolger als Bischof von Maastricht wurde sein Neffe Lambertus. Weil Lambertus genau so geradlinig und mutig seinen Weg als Bischof ging, wie sein Onkel Theodardus, übertrugen die Mörder nun ihren Hass auf Lambertus und trachteten ihm nach dem Leben. Lambertus musste aus seinem Bistum fliehen und lebte sieben Jahre in der Verbannung im Kloster Stablo. Erst Pippin der Mittlere ermöglichte es, dass Lambertus nach dem Tod seiner Gegner im Jahre 782 nach Maastricht in seine Bischofsstadt zurückkehren konnte und das Bischofsamt ausüben durfte.
Nun begann die große Missionarsarbeit des hl. Lambertus, die ihn auch in unsere Heimat führte. Ihm zur Seite standen vor allem die zwölf iroschottischen Mönche unter der Führung des hl. Willibrord.
Matthias Josef Gansweidt, ein Sohn Birgelens, später Ehrendomherr in Porto Alegre, Brasilien, ist diesen Anfängen nachgegangen und hat die Ergebnisse seines Suchens und Forschens in einem Büchlein „Mariaborn oder das Birgeler Pützchen”, Kevelaer 1929, festgehalten.
Er berichtet sehr anschaulich, wie unter dem missionarischen Einsatz des hl. Lambertus aus einer alten heidnischen Kultstätte der Germanen an „dem kleinen Brunnen”, dem „Pützchen” ein besonderes Heiligtum der Christen wurde, nämlich die Taufstätte für die Neubekehrten.
Auf dem nahegelegenen Berg, wo jetzt der Friedhof ist, ließ Lambertus eine kleine Holzkirche errichten. Später wurde an dieser Stelle die alte Birgelener Bergkirche erbaut. Auch dieser Ort ist bis in die Römerzeit zurück als Kult- und Opferstätte historisch belegt. Das Provinizialsmuseum in Bonn hat solche Zeichen und Zeugnisse der Vergangenheit aus unserer Gemeinde in Verwahr.
Lambertus pflegte ein gutes Verhältnis zu Pippin, das ihm bei seiner Missionsarbeit sehr zustatten kam. Pippin seinerseits unterstützte das Werk des Lambertus, weil er darin eine Stärkung seiner eigenen Macht sah. Doch bald sollte dieses gute Verhältnis von düsteren Wolken überschattet werden, die schließlich zum Martyrium des Bischofs führten. In seinem
Martyrium wurde Lambertus in einer merkwürdigen Weise Johannes dem Täufer ähnlich. Pippin verstieß seine Gemahlin Plektrudis und heiratete die ‚schöne Alpis“, wie sie in den Geschichtsbüchern genannt wird. Dazu konnte und durfte Lambertus nicht schweigen. Er mußte seinen Protest kundtun und seinen Einspruch erheben. Das verärgerte weniger den mächtigen Pippin als vielmehr Alpis und ihre Verwandtschaft. Drogo, einer der Verwandten der Alpis, überfiel Lambertus in seinem Haus. Lambertus verbot seiner Umgebung alle Gegenwehr, und Drogo ermordete den Bischof in der Kapelle seines Hauses. Das war am 17. September 705 oder 706. Plektrudis, die verstoßene Gattin Pippins, fand eine Bleibe im Kloster „Maria im Kapitol” in Köln. Dorthin zog sie sich mit ihrer Nichte Nothburga zurück. (Hans Steffens: „Pioniere des Bistums Aachen”, S. 17 und 19.)
Wann am Pützchen zum ersten Mal ein Bild der Gottesmutter aufgestellt wurde, läßt sich nicht mehr mit Sicherheit nachweisen. Die Legende berichtet von einem Herm von Schlickum, der auf der Jagd von einer Bärin angefallen und so schwer verletzt wurde, daß sein Tod unabwendbar schien. Sein Jagdgenosse suchte nach Wasser, um die Wunden auszuwaschen, und fand eine frische Quelle zwischen den Wurzeln einer Eiche. Er eilte zu seinem Freund, wusch ihm mit dem Quellwasser die lebensgefährlichen Bißwunden aus und konnte ihm so das Leben retten. Herr von Schlickum ließ einige Tage später an der Eiche über der Quelle in einem wetterfesten Kasten das Bild der Gottesmutter anbringen. Von dieser Begebenheit berichten auch Heribert Heinrichs und Jakob Broich in ihrem Buch „Kirchengeschichte des Wassenberger Raumes” und schreiben dann: „Es war die Geburtsstunde des kleinen Marienwallfahrtsortes.”
Von vielen wunderbaren Hilfen und Erhörungen auf die Fürsprache der Gottesmutter berichten Überlieferung und Legende, die hier nicht alle nacherzählt werden können. Das Handbuch des Bistums Aachen,
in 3. Auflage 1994 herausgegeben, berichtet vom Pützchen: „Das Birgelener Pützchen, vielleicht eine der zahlreichen Willibrordisquellen, beim Volk geschätzt wegen seines bei Augenleiden und anderen Krankheiten heilbringenden Wassers, ist eine seit altersher besuchte Wallfahrtsstätte. Wann an dieser Stelle ein Bild der Gottesmutter aufgestellt worden ist, lässt sich nicht mit Sicherheit beweisen. Urkundlich steht eine Pilgerfahrt zur Schmerzhaften Mutter im Jahr 1718 fest.“
1795 wurde anstelle des Holzschreins „ein steinernernes Bethäuschen erbaut, worin das alte Gnadenbild zu stehen kam. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ließ Wilhelm Josef Jansen aus Birgelen das Brünnlein mit Stein einfassen und über demselben ein Kapellchen bauen, auf dessen Altar das Bild den ihm zukommenden Ehrenplatz erhielt. (Gansweidt S.31/32).
Später wurde in diesem Kapellchen ein Schnitzaltar aufgestellt, der von dem Birgelener Dachdeckermeister Josef Linzen gestiftet und in zweijähriger Arbeit selbst geschnitzt worden war. Von Josef Linzen berichten Gansweidt und Heinrichs/Broich: „Josef Linzen hatte ein kleines Geschäft in Birgelen, übte aber auch gleichzeitig das Gewerbe eines Dachdeckers aus. Das Kirchendach, welches mit Schiefer bedeckt war, bedurfte einer gründlichen Ausbesserung. Wer anders sollte das schwierige Werk unternehmen als Josef Linzen. Die von ihm benutzte Leiter aus schwachen Latten war zu kurz für das breite Kirchendach und erreichte nicht den Giebel. Da behalf er sich mit einer Hilfsleiter, die er auf die lose Spitze der unteren Leiter stellte. So saß er auf der obersten Sprosse und arbeitete. Da fingen plötzlich die beiden Leitern an sich zu bewegen. Sie glitten und schoben sich durcheinander, der Dachdecker verlor den Halt und rutschte abwärts. Jakob Küppers, der von der Straße aus die drohende Gefahr erblickte, schloß die Augen, um das Gräßliche, das nun kommen mußte, nicht schauen zu müssen. Jeden Augenblick erwartete er den Angstschrei und das zermalmende Aufschlagen des aus der Höhe stürzenden Mannes. Als dennoch alles ruhig blieb, erhob er wieder die Augen. Da sah er den Dachdecker an der Spitze des Turmes hängen und sich auf sicheren Halt schwingen. Was war geschehen?
Später hat Linzen es erzählt. Im Augenblick des Gleitens hatte er die Mutter Gottes vom Pützchen angerufen, die er innig verehrte. Gleichzeitig tat er mit den Armen einen blinden Griff nach oben und – ohne zu wissen, wie es gekommen – hing er mit den Händen am Schalloch des Turmes. Er war gerettet.“ (Gansweidt S.35, Heinrichs/Broich S.212)
Nach dem 1. Weltkrieg nahm die Verhehrung der Schmerzensmutter am Pützchen einen starken Auftrieb. Der erste Sonntag im Mai, der „Pützchenssonntag“, versammelte immer mehr Beter an der heiligen Stätte.
1928 erwirkte der damalige Pfarrer von Birgelen, Dr. Hubert Busch, die Erlaubnis, am Pützchenssonntag mit den Pilgern am Pützchen die hl. Messe vor der Kapelle im Freien feiern zu dürfen. Im ersten Jahr baute man den Altar oben auf dem Pützchensberg, und die Pilger standen am Abhang des Berges. Das erwies sich als keine gute Lösung. Darum baute man im nächsten Jahr und auch in den folgenden Jahren den Altar am Fuß des Berges, und die Pilger konnten vom Berg herunter auf den Altar schauenn und so die hl. Messe in eienr würdigen Weise recht mitfeiern.
1933 wurde an dem alten Kapellchen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts der achteckige Anbau, das Oktogon, beigefügt nach einem Entwurf des Architeekten B. Rotterdam aus Bensberg. Dieser Architekt hatte auch den Erweiterungsbau der Birgelener Pfarrkirche 1935-1936 geplant und überwacht. Der oben erwähnte Schitzaltar des Dachdeckermeisters Josef Linzen war inzwischen morsch geworden und wurde 1936 durch einen in der Pfarrkirche beim Umbau freigewordenen Nebenaltar ersetzt. Mit dem Gnadenbild der Schmerzensmutter aus dem alten Altar steht er nun an der Abschlußwand der achteckigen Erweiterung der Kapelle.
Am Fenster im Altteil des Pützchens sind Arbeiten aus der Glasbrennerei Nikolai, Roermond. Nach der Zerstörung im letzten Krieg wurden sie alten Plänen und Vorlagen durch den Glasmaler Peter Thomas aus Ophoven restauriert.
Im letzten Krieg waren es vor allem die Mütter, die allabendlich betend für ihre Männer und Söhne zum Pützchen pilgerten. Nach dem Krieg spiegelten sich auf allen Gesichtern der Pilger die ganze Not und das Elend der Nachkriegszeit wieder. Die Heimkehrer aus Krieg, Gefangenschaft oder Evakuierung kamen ja in eine zerstörte, ausgebombte und ausgebrannte Heimat. Es bleibt für immer zu bewundern, wie diese Generation aus den Trümmern die Heimat wieder aufgebaut hat, ihre Häuser und Arbeitsstätten und auch ihr Gotteshaus im Herzen des Dorfes, wie sie sich gegenseitig geholfen haben beim Wiederaufbau und das Wenige, das ihnen noch geblieben war, miteinander getreilt haben. Mut und Kraft dazu holteen sich vieele bei der Schmerzhaften Mutter am Pützchen.
Bei ihr konnten sie auch lernen, worauf es nun ankam. Weihbischof August Peters hat es später einmal in einer Predigt so gesagt: „Darauf allein wird es ankommen: Wir müssen bei Jesus Christus bleiben. Er muß für uns das Leben werden, der feste Halt, der alles hält, der starke Grund, der alles trägt.“ (August Peters: „Sucht, wo Christus ist“, S. 128). Gerade die Schmerzensmutter hat uns das vorgelebt. Sie ist bei ihrem Sohn geblieben unter dem Kreuz, und Jesus gab sie uns in der Stunde zur Mutter. Darum ist sie auch bei den Menschen unter dem Kreuz, den Menschen in leid und Schmerz und Sorgen besonders nahe.
So führt auch der Kreuzweg zur schmerzhaften Mutter. 1713 wurden nach einer Volksmission die „Sieben Fußfälle“ und 1908 die vierzehn Stationen des ersten Kreuzwegs errichtet. Die Sandsteinfiguren waren im laufe der Zeit so schadhaft geworden, daß sie durch Stationsbilder aus Bronze ersetzt werden mußten. Die strenge Linienführung der Plastiken von Bildhauer Bernard Wehling aus Kevelaer lenkt den Blick auf die Hauptgestalt dieser Leidensszenen, auf Jesus Christus, der jeden von uns einlädt, sein Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen.
Nach dem 2. Weltkrieg wurden die Pützchenssonntage nach dem Wunsch des damaligen Bischofs von Aachen, Johannes Joseph van der Velden, und durch den nimmermüden Einsatz des damaigen Pfarrers von Birgelen, Hermann Josef Zurmahr, und des Dechanten und Domkapitular Anton Ruppertzhoven zu besonderen Glaubenstagen und Kundgebungen der katholischen Jugend, besonders für die zehn nördlichen Dekanate des Bistums Aachen. Bischof van der Velden hielt selbst in den Jahren 1947, 1948 und 1949 die Predigten in den Feierstunden und griff dabei die Fragen und die Probleme der damals so schwierigen Zeit auf. Diese Predigten fanden große Beachtung nicht nur in unserem Bistum und in unserem Land, sondern auch in den Nachbarländern. Erinnert sei an seine Worte aus der Sorge um die beabsichtigten Gebietsabtrennungen an die Niederlande und an Belgien, die 120.000 bis 150.000 Menschen betroffen hätten. Das Grenzbistum Aachen und der Grenzkreis Geilenkirchen-Heinsberg wären besondere Opfer dieser Maßnahmen gworden. In einem eindringlichen Schreiben an Kardinal de Jong in Utrecht bat der Bischof ihn und die Bischöfe der niederländischen Kirchenprovinz, dafür einzutreten, daß der Geist Christi, und nicht der Geist der Rache und Vergeltung, kommende Friedensbestimmungen beherrsche.
Vor jeder gerechten Forrderung nach Wiedergutmachung werde das deutsche Volk sich beugen. Gebietsabtrennungen aber würden die Not in Deutschland nur vergrößern. In seiner Predigt am 11. Mai 1947 am Pützchen gipfelte der Gruß des Bischofs an die Jugend jenseits der Grenzen in die Bitte: „laß und die Heimat!“ (August Brecher „Bischof mitten im Volk“, S. 129-130). Bei dieser Feier waren 12.000 Jugendliche um ihren Bischof versammelt, und die Zahl nahm in dden folgenden jahren noch zu. Die Festschrift zur 150-Jahrfeier des Birgelener Gotteshauses berichtet für 1948 und 1949 von jeweils 20.000 Jugendlichen. Heribert Heinrichs schreibt in der oben erwähnten „Kirchengeschichte des Wassenberger Raumes“: „Als 1948 Bischof van der Velden am Pützchen predigte, waren 27.000 katholische Jungen und Mädchen, Jungmänner und Jungfrauen, Männer und Frauen zusammengeströmt. Das Gnadenbild am kleinen Brunnen zwischen Wassenberg und Birgelen war ein bedeutender Wallfahrtsort geworden“.
Nach der Gründung der Regionen im Bistum Aachen wurde ab 1971 der Pützchenssonntag unter Regionaldekan Arnold Poll zum Wallfahrtstag der Region Heinsberg zum Birgelener Pützchen. Als Leitwort für den Tag wählte man jeweils eine Anrufung aus der Lauretanischen Litanei. Auch die Frauen der Region halten ihre jährliche Wallfahrt zur Schmerzhaften Mutter, und zwar an einem Mittwoch im Oktober.
Seit einigen Jahren treffen sich durch die Initiative des jetztigen Pfarres Willi Steinrath (1926-2009) jeden Sonntag, Dienstag und Freitag um 16.00 Uhr Frauen und Männer am Pützchen zum gemeinsamen Rosenkranzgebet. Und tagaus, tagein, von früh bis spät, kommen stille Beter mit ihren Sorgen und Nöten, aber auch mit Vertrauen, ihrer Liebe und Dankbarkeit zur Schmerzhaften Mutter.
Welch kostbares Erbe ist mit dieser heiligen Stätte, dem „kleinen Brunnen“, dem „Pützchen“, über Jahrhunderte auf uns gekommen und uns anvertraut! Horten und pflegen wir es, daß wir es einmal weitergeben können an die kommenden Generationen.